Lars Krüsand, „Untergrundarbeit“ (Mat958)

Worum es hier geht:

Die folgende Geschichte kann sehr gut zu Beginn einer Unterrichtsreihe zum Thema „Kurzgeschichten und Kommunikation“ eingesetzt werden. Deutlich wird der Rollenkonflikt zwischen einem Vertretungslehrer und einem Schüler, den anscheinend nichts erschüttern kann.
Noch eine kleine Vorbemerkung:
Diese Kurzgeschichte ist entstanden auf der Basis eines Konfliktgesprächs.
Man kann daran also sehr schön sehen, was passiert, wenn man einen einfachen Dialog, wie er auf der Bühne gesprochen werden könnte, in eine Geschichte verwandelt.
Ansonsten zeigen wir hier erst mal an einem Bild, wie man die insgesamt 30 Sprechakte versuchsweise den vier Seiten des Kommunikationsquadrades von Schulz von Thun zuordnen kann:
grün = Sachinformation, am unproblematischsten
grau = Appell
violett oder lila (wir können das leider nicht unterscheiden ;-): Beziehungsebene, auch ziemlich heikel, wenn man negative Gefühle auslöst.
rot = Selbstkundgabe oder Selbstoffenbarung, das ist ja der gefährlichste, weil in der Regel am meisten unbewusste Aspekt.
Wir hängen die Liste mit den Farbmarkierungen auch als PDF-Download an.
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Mat958KL-KommListe-Kurzgeschichte Untergrundarbeit

Mat958S-Text Kurzgeschichte Untergrundarbeit


Lars Krüsand

Untergrundarbeit

Eigentlich war er ganz gut angekommen in der neuen Schule. Seine Eltern hatten jetzt mehr Zeit für die Familie – und so musste er nicht mehr aufs Internat. Hatte sicher Vorteile – aber es war auch schön, ein bisschen mehr unter „Normalos“ zu verkehren. So hatten seine Mitschüler Leute genannt, die nicht das Geld hatten, ihre Kinder auf ein Internat zu schicken.

Er war wirklich gut angekommen – hatte aber das Gefühl, dass die Klasse immer noch nicht so richtig wusste, woran sie bei ihm waren.
Das hatte sich heute wahrscheinlich geändert.

Ihr Deutschlehrer, Dr. Guttermann, war anscheinend krank, jedenfalls ging die Tür auf und es kam jemand rein, den er noch nie gesehen hatte. Ziemlich strenger Gesichtsausdruck, sogar etwas Lauerndes schien drin zu liegen. Dann gleich nach der knappen Begrüßung die klare Ansage: „Leute, ich werde für die Stunde bezahlt, also sollten wir auch vernünftig arbeiten.“ Was die Bezahlung des Lehrers mit ihrem vernünftigen Arbeiten zu tun hatte, leuchtete ihm nicht so richtig ein. Aber er war gespannt, was noch kam.

Der Vertretungslehrer schrieb erst mal den Begriff „Rhetorik“ an die Tafel und schaute erwartungsvoll in die Runde. Sollte wohl moderne Pädagogik sein – die Schüler auf alles selbst kommen lassen.
Weil aber niemand auf irgendwas kam, musste der Lehrer wohl sein Konzept umstellen. Die Augen wanderten suchend durch den Raum und fanden ein Ziel – dummerweise gerade ihn, der gerade mit seinem Smartphone zugange war. Zwar unter der Bank – aber wohl für diesen Blick nicht tief genug.

Noch im ersten Schrecken hörte er die Worte: „Sag mal, du da mit der Brille und dem weißen T-Shirt…“
So was wäre im Internat unmöglich gewesen. Hatte vielleicht doch Vorteile, wenn die Eltern Geld hatten und sich auch Anwälte leisten konnten.
Er versuchte es erst mal auf die freundliche Tour: „Ich heiße Jan, wenn Ihnen das hilft.“
Der Lehrer zuckte einen Augenblick, dann hatte er sich gefangen und griff in seine Reaktionskiste: „Das ist ja wohl superdreist. Erst mit dem Handy rumspielen und dann noch freche Antworten geben.“
Das mit dem „rumspielen“ ging ja noch, aber „superdreist“ und „frech“ waren deutlich jenseits der roten Linie. Also hieß es, einen Zahn zuzulegen, wozu hatten seine Eltern einen guten Rechtsanwalt: „Wieso ist das frech, wenn ich Ihnen ein bisschen auf die Sprünge helfe?“
Das war nahe am Knockout. Möglicherweise hatte dieser Lehrer kein besonders gutes Examen gemacht und da eine Schwachstelle. Aber er versuchte es erst mal auf die halb-sachliche Art: „Wird ja immer besser – du willst also andeuten, dass ich zu dumm wäre, um hier den Unterricht zu machen?“
Jetzt hieß es aufpassen – „dumm“ war eine Beleidigung und verschlechterte die Prozessaussichten: Also lieber etwas in die Defensive gehen: „Da fehlt mir die Fachkompetenz, um das zu entscheiden. Was ich aber gut weiß, ist, dass ich Jan heiße.“

Dem Lehrer erschien das als gute Gelegenheit, nun endlich weiterzukommen: „Also ich warne dich, keine weiteren dummen Sprüche mehr. Also, was hast du da eben unter der Bank gemacht?“
Die Vorlage war zu schön, also ein bisschen mit Sprache spielen: „Machen Sie sich keine Sorgen, hier läuft keine Untergrundarbeit. Oder vielleicht doch?“
Man sah dem Lehrer an, dass er das nicht so ganz verstanden hatte – konnte er eigentlich auch nicht. Also kam etwas, was sie immer als „Null-Aussage“ bezeichnet hatten. Irgendwas sagen, damit die Kommunikation nicht bei einem selbst hängenbleibt: „Wird ja immer besser.“
Das gab Jan die Möglichkeit, Kooperationsbereitschaft zu zeigen: „Das sagten Sie schon … Freut mich übrigens, dass Ihnen meine Beiträge gefallen.“
Darauf kam sofort wieder eine Null-Aussage: „Du bist ja wirklich ein ganz außergewöhnlicher Spaßvogel …“
Das schien Jan eine gute Gelegenheit zu sein, ein bisschen Wissen rauszuhauen: „Das sagt Dr. Guttermann auch – nur wies er uns dabei drauf hin, dass „witzig“ was mit geistreich zu tun hat.“
Wieder so ein Treffer im geistigen Niemandsland. Von der Zeit des Barock und der Aufklärung hatte dieser Mann wohl noch nie etwas gehört. Ob er überhaupt Deutsch unterrichtete?

Was jetzt kam, war wieder so eine unglückliche Kombination aus Friedensangebot und Kriegserklärung: „Na, euer Deutschlehrer scheint euch ja wirklich was beizubringen. Aber zurück zu deinem Bombenbau unter dem Tisch.“
Hier musste er jetzt er ein bisschen überlegen: „Bombenbau“? Was meinte der Mann? Da fiel ihm die Sache mit der Untergrundarbeit wieder ein. „Sehr witzig – ist übrigens ironisch gemeint, damit es keine weiteren Missverständnisse gibt. Ich sprach übrigens von ‚Untergrundarbeit‘ und – tja, das war mein einziger Fehler: Ich hätte ‚Unterbankarbeit‘ sagen müssen.
Auf der Gegenseite jetzt die volle Irritation: „Du willst doch nicht etwa allen Ernstes behaupten, dass du unter der Bank gearbeitet hast?“
Jetzt fiel Jan sein letzter Besuch beim Orthopäden ein, das konnte er gut einbauen: „Na ja, unter der Bank nicht direkt – das wäre für meinen Rücken nicht so gut, aber gearbeitet wurde tatsächlich unter der Bank – allerdings von meinem Handy.“
Der Gegner zeigte sein strahlendstes Gesicht und griff schon in Gedanken zum Klassenbuch: „Du gibst also zu, dass du im Unterricht mit deinem Handy zugange warst – du wirst es dir also wohl beim Direktor abholen müssen.“
Jan versuchte es mit einem Maximum an Reduktion auf das Wesentliche: „Wäre nicht so gut, denn dann könnte ich es nicht mehr benutzen.“
Die Gegenseite griff erst mal wieder in den Bausteinkasten für durchsetzungsbereite Pädagogen: „Nicht schon wieder solche Dreistigkeiten, du weißt genau, was ich meine. Du sollst durch dein Handy nicht abgelenkt werden.“
Das war die Gelegenheit zum Gegenschlag: „Das Einzige, was mich vom Unterricht ablenkt, sind Sie.“

Der Mann geriet langsam außer sich, fasste sich dann aber schnell wieder: „Ich fasse es nicht – also gut: Eine letzte Chance: Was hast du da unter der Bank gemacht – oder gut – was hat dein Handy unter der Bank gemacht?“
Jetzt war es an der Zeit, mit der einfachen Wahrheit rauszurücken: „Ich habe mal eben geschaut, was es mit dieser verdammten Rhetorik auf sich hat, die es gewagt hat, sich mir bisher in meinem Leben noch nicht vorzustellen.“
Er wusste, das war jetzt ein bisschen steil formuliert – aber wozu hatten sie so etwas im Internet immer wieder in der Kommunikations-AG geübt?
Der Lehrer versuchte es mit einfachem Nachfragen: „Was hast du gemacht? Wer hat sich nicht vorgestellt?“
Also gab man am besten auch eine ganz einfache Antwort: „Ganz ruhig – wir klären das schon. Das Geheimnis heißt ‚Google‘ und da gibt man so ein Wort wie Rhetorik ein, wenn man es noch nicht kennt – und dann ist man schlauer, übrigens ganz ohne Lehrer.

Die Gegenseite war offensichtlich müde und nahm den Affront am Ende gar nicht erst auf: „Na schön, und was ist dabei herausgekommen?“
Auf den Moment hatte Jan sich die ganze Zeit gefreut: „Ich lese Ihnen mal vor, was ich in einem Online-Magazin gefunden habe:  ‚Schule heute: Vorn hat ein Lehrer hektische Flecken und erzählt monoton was, hinten werden alle immer schläfriger – muss Unterricht so trostlos sein? usw.‘“
Erstaunlicherweise schien das dem Lehrer zu gefallen, jedenfalls hatte er den Ausgangspunkt des Ärgers anscheinend vergessen: „So was steht im Internet? Na ja, grundsätzlich ist das ja richtig – langweilig soll es nun wirklich nicht im Unterricht sein.“
Jetzt allerdings machte Jan einen Fehler: „Sehen Sie – und ich und mein Handy haben sehr dazu beigetragen 😉
Und so kam, was kommen konnte: „Ja, Jan, du hast mich überzeugt. Du darfst jetzt deinen Stuhl nehmen, dich in den Flur setzen und in 10 Minuten trägst du uns vor, was das Online-Magazin an Vorschlägen zur Verhinderung von Trostlosigkeit zu bieten hat.“

Jan beschloss das, als Friedensangebot und Zeichen von Kooperationsbereitschaft auch mit Schülern zu nehmen, nahm seinen Stuhl, stellte ihn draußen vor die geschlossene Tür und ließ sich auf dem Weg zum Kaffeeautomaten den Text des Artikels vom Handy vorlesen. Ihm würde schon was einfallen, was er gleich erzählen konnte.


Ausgangspunkt für diese Kurzgeschichte – ein fiktives Gespräch für die Kommunikationsanalyse

Das Folgende ist ein Auszug aus dem Buch:

Helmut Tornsdorf,
Mit Sprache was erreichen …: Tipps zur Kommunikation, Argumentation, Rhetorik, Analyse von Gesprächen

(Bücher für den schnellen Durchblick 14) Kindle Ausgabe
als E-Book u.a. erhältlich zum Beispiel bei Amazon, aber auch anderen Anbietern.

In dem E-Book wird dieses Gespräch dann auch ausführlich analysiert.
11. Beispiel: Sprachlicher Wettkampf Schüler-Lehrer
Ausgangssituation:Es geht um eine 9. Klasse. Der Deutschlehrer, Herr Gutdrauf, ist verhindert. Also wird die Stunde von einem Vertretungslehrer durchgeführt, der die Klasse nicht näher kennt. Es geht um das Thema „Rhetorik“. Der Lehrer hat diesen Begriff an die Tafel geschrieben. Weil nie-mand in der Klasse weiß, was das ist, schauen alle auf Jan, der wegen seiner Geschicklich-keit im Umgang mit Wörtern und Situationen „King of Smalltalk“ genannt wird. Aber auch der Vertretungslehrer (ab jetzt VL) interessiert sich für ihn:

1. VL: Sag mal, du da mit der Brille und dem weißen T-Shirt…

2. Jan: Ich heiße Jan, wenn Ihnen das hilft.

3. VL: Das ist ja wohl superdreist. Erst mit dem Handy rumspielen und dann noch freche Ant-worten geben.

4. Jan: Wieso ist das frech, wenn ich Ihnen ein bisschen auf die Sprünge helfe?

5. VL: Wird ja immer besser – du willst also andeuten, dass ich zu dumm wäre, um hier den Unterricht zu machen?

6. Jan: Da fehlt mir die Fachkompetenz, um das zu entscheiden. Was ich aber gut weiß, ist, dass ich Jan heiße.

7. VL: Also ich warne dich, keine weiteren dummen Sprüche mehr. Also, was hast du da eben unter der Bank gemacht?

8. Jan: Machen Sie sich keine Sorgen, hier läuft keine Untergrundarbeit. Oder vielleicht doch?

9. VL: Wird ja immer besser.

10. Jan: Das sagten Sie schon … Freut mich übrigens, dass Ihnen meine Beiträge gefallen.

11. VL: Du bist ja wirklich ein ganz außergewöhnlicher Spaßvogel …

12. Jan: Sagt Herr Gutdrauf auch – nur wies er uns dabei drauf hin, dass „witzig“ was mit geistreich zu tun hat.

13. VL: Na, der Herr Gutdrauf scheint euch ja wirklich was beizubringen. Aber zurück zu dei-nem Bombenbau unter dem Tisch.

14. Jan: Sehr witzig – ist übrigens ironisch gemeint, damit es keine weiteren Missverständnis-se gibt. Ich sprach übrigens von „Untergrundarbeit“ und – tja, das war mein einziger Fehler: Ich hätte „Unterbankarbeit“ sagen müssen.

15. VL: Du willst doch nicht etwa allen Ernstes behaupten, dass du unter der Bank gearbeitet hast?

16. Jan: Na ja, unter der Bank nicht direkt – das wäre für meinen Rücken nicht so gut, aber gearbeitet wurde tatsächlich unter der Bank – allerdings von meinem Handy.

17. VL: Du gibst also zu, dass du im Unterricht mit deinem Handy zugange warst – du wirst es dir also wohl beim Direktor abholen müssen.

18. Jan: Wäre nicht so gut, denn dann könnte ich es nicht mehr benutzen.

19. VL: Nicht schon wieder solche Dreistigkeiten, du weißt genau, was ich meine. Du sollst durch dein Handy nicht abgelenkt werden.

20. Jan: Das Einzige, was mich vom Unterricht ablenkt, sind Sie.

21. VL. Ich fasse es nicht – also gut: Eine letzte Chance: Was hast du da unter der Bank ge-macht – oder gut – was hat dein Handy unter der Bank gemacht?

22. Jan: Ich habe mal eben geschaut, was es mit dieser verdammten Rhetorik auf sich hat, die es gewagt hat, sich mir bisher in meinem Leben noch nicht vorzustellen.

23. VL: Was hast du gemacht? Wer hat sich nicht vorgestellt?

24. Jan: Ganz ruhig – wir klären das schon. Das Geheimnis heißt „Google“ und da gibt man so ein Wort wie Rhetorik ein, wenn man es noch nicht kennt – und dann ist man schlauer, übri-gens ganz ohne Lehrer.

25. VL: Na schön, und was ist dabei herausgekommen?

26. Jan: Ich lese Ihnen mal vor, was ich in einem Online-Magazin gefunden habe:  Schule heute: „Vorn hat ein Lehrer hektische Flecken und erzählt monoton was, hinten werden alle immer schläfriger – muss Unterricht so trostlos sein? usw.“

27. VL: So was steht im Internet? Na ja, grundsätzlich ist das ja richtig – langweilig soll es nun wirklich nicht im Unterricht sein.

28. Jan: Sehen Sie – und ich und mein Handy haben sehr dazu beigetragen 😉

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